Mitteldeutsche Kirchenzeitung, erschienen am 1. April 2015
Von Peter Beyer (Text und Fotos)
Passionsspiele: Nicht nur im katholischen Oberammergau, auch im protestantischen Erzgebirge setzen Menschen das Neue Testament in Szene
Im erzgebirgischen Zschorlau führen seit 15 Jahren evangelische Laienspieler die Leidensgeschichte Christi auf. Die Idee hierfür geht auf Kreuzworträtsel zu DDR-Zeiten zurück. Heute schauen sich bis zu 6 000 Zuschauer die Passionsspiele an.
»Lasst es euch schmecken, Jungs!« Rechtsanwalt Dr. Dieter Schürer steht auf einem Tisch an der Wand und erteilt den Aposteln, die gerade zum letzten Abendmahl Platz genommen haben, Anweisungen. Derweil breitet Jesus die Arme aus und schreitet auf seine Jünger zu. Einer von ihnen hebt sich ab von den anderen. Es ist, ausgerechnet, Judas. Statt Kutte oder Gewand wie alle anderen trägt der Mann mit der Goldbrille ein rotes Karohemd – der Verräter hat sein Kostüm vergessen.
Das »Hosianna«, dem das »Kreuzige ihn« folgt: Bei der Probe zur diesjährigen Spielzeit wird der Einzug in Jerusalem geprobt. Jesus-Darsteller Matthias Groß arbeitet im normalen Leben als Bauschlosser.
Schauplatz des Geschehens ist das Obergeschoss im CVJM-Haus in Albernau nahe Aue. Hier haben sich an einem Sonnabendmittag im Januar weit über hundert Menschen eingefunden. Sie stammen aus verschiedenen evangelischen Gemeinden der Umgebung, sind zuallermeist Männer – und haben auffallend lange Haare. Gemeinsames Anliegen der vielen Bartträger und der wenigen Frauen: Probe für die Zschorlauer Passionsspiele, die vom 3. bis 12. April aufgeführt werden.
Am Anfang stand ein Kreuzworträtsel
Entstanden ist das protestantische Schauspiel im Erzgebirge eher zufällig. »Zu DDR-Zeiten waren mir Passionsspiele vor allem aus Kreuzworträtseln ein Begriff: Österreichischer Passionsspielort mit drei Buchstaben – Erl«, berichtet Initiator Schürer, selbst Mitglied des Gemeindevorstandes der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Zschorlau. Während des ersten Westurlaubs 1990 fuhr der heute 62-Jährige voller Neugier nach Erl, schaute sich ein Jahr später die dortigen Spiele an. »Aus einer Weinlaune heraus und bei Alpenglühen überlegte ich 1997 vor Ort mit Gleichgesinnten: Was bräuchten wir, um so etwas in unserem Zschorlau mit seinen 3 500 Einwohnern zu veranstalten?« Die Idee nahm Gestalt an, als Regisseur verteilte Schürer die Rollen und schrieb das Textbuch – basierend auf den vier Evangelien des Neuen Testaments sowie dem Roman »Jesus von Nazareth« des polnischen Schriftstellers Roman Brandtstätter. Das Szenario verfasste Schürer dann während eines Türkeiurlaubs am Strand. Im April 2000 schließlich war es so weit – die Zschorlauer Passionsspiele feierten Premiere.
Der Jesus von Zschorlau heißt Matthias Groß. Im normalen Leben ist der 54-Jährige Bauschlosser. In der erzgebirgischen Passionsspielwelt hingegen ist Groß erste Besetzung des Jesus, schlüpft der Zschorlauer dafür in einen weiß-beigen Kittel. »Damit, nicht mehr zum Frisör zu gehen, beginnt meine Vorbereitung«, erklärt Groß während einer Szene, in der einer der beiden anderen Jesus-Darsteller probt.
Nach vier Spielzeiten und vielen Dutzend Proben kennt der Zschorlauer Jesus seinen Text schon gut auswendig. »Richtig aufgeregt bin ich mittlerweile auch nicht mehr. Das ist gut, denn so kann man sich besser auf das eigentliche Spielen vorbereiten«, sagt Groß. Am meisten aus sich herausgehen könne er in der Tempelszene und auch beim Ausspruch: Lasst diesen Kelch an mir vorübergehen! Das sei, als habe man eine Krankheit überwunden, fügt er hinzu.
Nach der ersten Spielzeit war klar: Es geht weiter
»Im Zschorlauer Spiel versuchen wir, das Passionsgeschehen weniger von unserem heutigen christlichen Standpunkt aus zu zeigen, sondern so, wie es damals die jüdische Bevölkerung ›live‹ erlebt haben dürfte«, erklärt Initiator Schürer. Vor der ersten Aufführung erhielten die Laiendarsteller schauspielerische Unterstützung von einem Zirkuspfarrer aus Dresden. Mit Erfolg: Nach der ersten Spielzeit gab es so viele positive Reaktionen, dass alle Beteiligten für eine Wiederholung plädierten und sich vornahmen, eine Tradition daraus zu machen. So gründeten im Herbst 2000 damals 73 Interessenten aus der evangelischen Kirchengemeinde, der Evangelisch-Methodistischen Kirche sowie der Landeskirchlichen Gemeinschaft der Ortsteile Zschorlau, Albernau und Burkhardtsgrün den »Passionsspielverein Zschorlau e. V.«. Schon zu Ostern 2001 wurde das protestantische Gemeinschaftsschauspiel erneut aufgeführt, dann einigte man sich auf einen Fünf-Jahres-Turnus.
Die Spiele schweißen zusammen – auch im Alltag
15 Jahre und vier Spielzeiten nach seiner Gründung hat der Verein fast doppelt so viele Mitglieder, kommen bis zu 6 000 Besucher pro Spielzeit zu den Aufführungen in die Sporthalle in Zschorlau. Sogar ein Fernsehteam war schon vor Ort und drehte einen Film mit dem sinnigen Titel »Im Dorf der Bärtigen«. Ein richtiges Wir-Gefühl sei aufgekommen, berichtet Schürer, alle freuten sich auf das nächste Mal.
»Mehr Dramatik!«, fordert Schürer in der nächsten Szene von den Teilnehmern des Hohen Gerichts. Sprechpausen auf Null, ruhig dem Vorgänger ins Wort fallen, so seine Instruktionen. Was folgt, ist voller Einsatz: »Er hat Gott gelästert, dieser Sohn eines Zimmermanns!«, brüllt Thomas Seifert in seiner Rolle als Hohepriester in die Runde. Laut sprechen mussten noch bis zur letzten Spielzeit 2010 alle Darsteller, damit ihre Stimme die Deckenmikrofone erreichte. Mittlerweile hat sich der Passionsspielverein Knopflochmikros geleistet, und auch Kulisse, Requisite und Kostüme wurden aufgepeppt. Doch über derlei äußerliche Verbesserungen hinaus wirkt das gemeinschaftliche Schauspiel vor allem auf den inneren Zusammenhalt der Beteiligten. Und den der teilnehmenden Gemeinden.
»Die Spiele schweißen zusammen«, bestätigt Schürer. »Früher sagte man sich nur flüchtig Hallo auf der Straße, nun bleibt man stehen. Das ist gut für den Ort und die Gemeinden. Proben und Aufführungen schaffen vielerlei Gemeinsamkeiten. Aus den Berührungspunkten auf der Bühne entstehen Bindungen auch während der Zeit zwischen den Spielen.«
Nachwuchssorgen gibt es in Zschorlau nicht
An Konzept und den meisten Dialogen hat sich seit der Premiere 2000 bis heute kaum etwas verändert. Altersbedingt ziehe sich zwar der eine oder andere Darsteller zurück, erklärt Schürer. Nachwuchssorgen aber kennen sie hier in Zschorlau nicht. Im Gegenteil: Weil sich längst alle etwas darunter vorstellen können, ist es für Schürer und seine Mitstreiter viel einfacher geworden, Gemeindemitglieder zum Mitmachen zu bewegen.
Das Aufhören hingegen gehe fast von alleine, schaltet sich am Ende noch einmal Hohepriester Thomas Seifert ein: »Aus der Rolle wächst du heraus, wenn deine Haare aufhören, aus dem Kopf zu wachsen!«
Judas im Karohemd
Mitteldeutsche Kirchenzeitung, erschienen am 1. April 2015
Von Peter Beyer (Text und Fotos)
Passionsspiele: Nicht nur im katholischen Oberammergau, auch im protestantischen Erzgebirge setzen Menschen das Neue Testament in Szene
Im erzgebirgischen Zschorlau führen seit 15 Jahren evangelische Laienspieler die Leidensgeschichte Christi auf. Die Idee hierfür geht auf Kreuzworträtsel zu DDR-Zeiten zurück. Heute schauen sich bis zu 6 000 Zuschauer die Passionsspiele an.
»Lasst es euch schmecken, Jungs!« Rechtsanwalt Dr. Dieter Schürer steht auf einem Tisch an der Wand und erteilt den Aposteln, die gerade zum letzten Abendmahl Platz genommen haben, Anweisungen. Derweil breitet Jesus die Arme aus und schreitet auf seine Jünger zu. Einer von ihnen hebt sich ab von den anderen. Es ist, ausgerechnet, Judas. Statt Kutte oder Gewand wie alle anderen trägt der Mann mit der Goldbrille ein rotes Karohemd – der Verräter hat sein Kostüm vergessen.
Das »Hosianna«, dem das »Kreuzige ihn« folgt: Bei der Probe zur diesjährigen Spielzeit wird der Einzug in Jerusalem geprobt. Jesus-Darsteller Matthias Groß arbeitet im normalen Leben als Bauschlosser.
Schauplatz des Geschehens ist das Obergeschoss im CVJM-Haus in Albernau nahe Aue. Hier haben sich an einem Sonnabendmittag im Januar weit über hundert Menschen eingefunden. Sie stammen aus verschiedenen evangelischen Gemeinden der Umgebung, sind zuallermeist Männer – und haben auffallend lange Haare. Gemeinsames Anliegen der vielen Bartträger und der wenigen Frauen: Probe für die Zschorlauer Passionsspiele, die vom 3. bis 12. April aufgeführt werden.
Am Anfang stand ein Kreuzworträtsel
Entstanden ist das protestantische Schauspiel im Erzgebirge eher zufällig. »Zu DDR-Zeiten waren mir Passionsspiele vor allem aus Kreuzworträtseln ein Begriff: Österreichischer Passionsspielort mit drei Buchstaben – Erl«, berichtet Initiator Schürer, selbst Mitglied des Gemeindevorstandes der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Zschorlau. Während des ersten Westurlaubs 1990 fuhr der heute 62-Jährige voller Neugier nach Erl, schaute sich ein Jahr später die dortigen Spiele an. »Aus einer Weinlaune heraus und bei Alpenglühen überlegte ich 1997 vor Ort mit Gleichgesinnten: Was bräuchten wir, um so etwas in unserem Zschorlau mit seinen 3 500 Einwohnern zu veranstalten?« Die Idee nahm Gestalt an, als Regisseur verteilte Schürer die Rollen und schrieb das Textbuch – basierend auf den vier Evangelien des Neuen Testaments sowie dem Roman »Jesus von Nazareth« des polnischen Schriftstellers Roman Brandtstätter. Das Szenario verfasste Schürer dann während eines Türkeiurlaubs am Strand. Im April 2000 schließlich war es so weit – die Zschorlauer Passionsspiele feierten Premiere.
Der Jesus von Zschorlau heißt Matthias Groß. Im normalen Leben ist der 54-Jährige Bauschlosser. In der erzgebirgischen Passionsspielwelt hingegen ist Groß erste Besetzung des Jesus, schlüpft der Zschorlauer dafür in einen weiß-beigen Kittel. »Damit, nicht mehr zum Frisör zu gehen, beginnt meine Vorbereitung«, erklärt Groß während einer Szene, in der einer der beiden anderen Jesus-Darsteller probt.
Nach vier Spielzeiten und vielen Dutzend Proben kennt der Zschorlauer Jesus seinen Text schon gut auswendig. »Richtig aufgeregt bin ich mittlerweile auch nicht mehr. Das ist gut, denn so kann man sich besser auf das eigentliche Spielen vorbereiten«, sagt Groß. Am meisten aus sich herausgehen könne er in der Tempelszene und auch beim Ausspruch: Lasst diesen Kelch an mir vorübergehen! Das sei, als habe man eine Krankheit überwunden, fügt er hinzu.
Nach der ersten Spielzeit war klar: Es geht weiter
»Im Zschorlauer Spiel versuchen wir, das Passionsgeschehen weniger von unserem heutigen christlichen Standpunkt aus zu zeigen, sondern so, wie es damals die jüdische Bevölkerung ›live‹ erlebt haben dürfte«, erklärt Initiator Schürer. Vor der ersten Aufführung erhielten die Laiendarsteller schauspielerische Unterstützung von einem Zirkuspfarrer aus Dresden. Mit Erfolg: Nach der ersten Spielzeit gab es so viele positive Reaktionen, dass alle Beteiligten für eine Wiederholung plädierten und sich vornahmen, eine Tradition daraus zu machen. So gründeten im Herbst 2000 damals 73 Interessenten aus der evangelischen Kirchengemeinde, der Evangelisch-Methodistischen Kirche sowie der Landeskirchlichen Gemeinschaft der Ortsteile Zschorlau, Albernau und Burkhardtsgrün den »Passionsspielverein Zschorlau e. V.«. Schon zu Ostern 2001 wurde das protestantische Gemeinschaftsschauspiel erneut aufgeführt, dann einigte man sich auf einen Fünf-Jahres-Turnus.
Die Spiele schweißen zusammen – auch im Alltag
15 Jahre und vier Spielzeiten nach seiner Gründung hat der Verein fast doppelt so viele Mitglieder, kommen bis zu 6 000 Besucher pro Spielzeit zu den Aufführungen in die Sporthalle in Zschorlau. Sogar ein Fernsehteam war schon vor Ort und drehte einen Film mit dem sinnigen Titel »Im Dorf der Bärtigen«. Ein richtiges Wir-Gefühl sei aufgekommen, berichtet Schürer, alle freuten sich auf das nächste Mal.
»Mehr Dramatik!«, fordert Schürer in der nächsten Szene von den Teilnehmern des Hohen Gerichts. Sprechpausen auf Null, ruhig dem Vorgänger ins Wort fallen, so seine Instruktionen. Was folgt, ist voller Einsatz: »Er hat Gott gelästert, dieser Sohn eines Zimmermanns!«, brüllt Thomas Seifert in seiner Rolle als Hohepriester in die Runde. Laut sprechen mussten noch bis zur letzten Spielzeit 2010 alle Darsteller, damit ihre Stimme die Deckenmikrofone erreichte. Mittlerweile hat sich der Passionsspielverein Knopflochmikros geleistet, und auch Kulisse, Requisite und Kostüme wurden aufgepeppt. Doch über derlei äußerliche Verbesserungen hinaus wirkt das gemeinschaftliche Schauspiel vor allem auf den inneren Zusammenhalt der Beteiligten. Und den der teilnehmenden Gemeinden.
»Die Spiele schweißen zusammen«, bestätigt Schürer. »Früher sagte man sich nur flüchtig Hallo auf der Straße, nun bleibt man stehen. Das ist gut für den Ort und die Gemeinden. Proben und Aufführungen schaffen vielerlei Gemeinsamkeiten. Aus den Berührungspunkten auf der Bühne entstehen Bindungen auch während der Zeit zwischen den Spielen.«
Nachwuchssorgen gibt es in Zschorlau nicht
An Konzept und den meisten Dialogen hat sich seit der Premiere 2000 bis heute kaum etwas verändert. Altersbedingt ziehe sich zwar der eine oder andere Darsteller zurück, erklärt Schürer. Nachwuchssorgen aber kennen sie hier in Zschorlau nicht. Im Gegenteil: Weil sich längst alle etwas darunter vorstellen können, ist es für Schürer und seine Mitstreiter viel einfacher geworden, Gemeindemitglieder zum Mitmachen zu bewegen.
Das Aufhören hingegen gehe fast von alleine, schaltet sich am Ende noch einmal Hohepriester Thomas Seifert ein: »Aus der Rolle wächst du heraus, wenn deine Haare aufhören, aus dem Kopf zu wachsen!«