Freie Presse, erschienen am 01.04.2015
Von Eva Prase (Text) und Kristin Schmidt (Fotos)
Alle fünf Jahre findet in Zschorlau das größte evangelische Passionsspiel Deutschlands statt. Ein Ereignis, das den Darstellern viel abverlangt – vor allem der Hauptfigur.
Matthias Groß, Gerald Baumann und Mario Scheller (von links) besetzen bei den Passionsspielen in Zschorlau die Rolle des Jesus.
Zschorlau. Oh Gott, wie heißt die Mehrzahl? Die drei Männer fühlen sich bei der Frage auf dem falschen Jesuslatsch erwischt. „Jesi“, erwidert der eine, und der zweite schlägt vor, die zweite Silbe lang zu ziehen, so wie im Lateinischen. „Jesuus?“ Der dritte meint „Jesusse“ und weiß in dem Augenblick, in dem er es ausspricht, dass es unmöglich ist.
Jesus in der Mehrzahl – in der Schulturnhalle von Zschorlau ist es möglich. Matthias Gross, Gerald Baumann und Mario Scheller – die drei Jesusdarsteller – haben sich ihre Kostüme angezogen. Weiße Gewänder, einen Schal, einen Strick um den Bauch. Es finden die letzten Proben zu den diesjährigen Passionsspielen in der kleinen Gemeinde bei Aue statt. „Passion“ bedeutet „Leiden“, und dargestellt werden die letzten Abschnitte im Leben Jesu. In der vergangenen Woche wurde die Bühne gebaut, zehn mal fünfzehn Meter, drei Etagen. Ein Holzkreuz steht bereit und andere Requisiten. Ein Käfig mit Täubchen. Die Vögel spielen die Rolle der Opfertiere in der Tempelszene – ohne zu sterben. Ein Koffer mit schlichten Sandalen. „Braucht noch jemand Latschen?“, ruft Dieter Schürer.
Rechtsanwalt Dieter Schürer brachte die Spiele nach Zschorlau.
Der promovierte Rechtsanwalt trägt als Einziger kein Kostüm, sondern ein hellblaues Sportshirt. Er dirigiert die Laiendarsteller, lässt sie immer wieder die Eingangsszene trainieren. Dabei laufen alle in Alltagskleidung auf die Bühne – als Volk von Jerusalem. „Das muss sitzen. Hier bekommen die Zuschauer den ersten Eindruck. Denkt dran: Konzentriert vorgehen! Nicht am Vorhang zupfen!“
Zschorlau verdankt Schürer, den sie im Ort oft nur „den Doktor“ nennen, die Spiele. Er hatte vor Jahren Passionsspiele in Erl, Thiersee und Oberammergau erlebt und gedacht, so etwas müsse es auch daheim geben. 2015 spielt Zschorlau nun schon zum fünften Mal, und bisher erlebten mehr als 21.000 Zuschauer das Stück. Ein großer Erfolg, der wohl nicht in jedem Ort möglich gewesen wäre. Doch Zschorlau, in den Bergen gelegen, ist von besonderer Gläubigkeit: Rund 3500 Einwohner zählt der Ort, 60 Prozent sind Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche, und weitere 400 gehören der evangelisch-methodistischen Kirche an. Voll besetzt ist die Kirche an den Sonntagen, dazu Hauskreise, Kirchenchor, Bibelnachmittage. Eine Alltagsfrömmigkeit herrscht, bei der jene leicht zu Außenseitern werden können, die nicht mitspielen.
Hartwig Albusberger gewinnt seiner Rolle als Judas nur Positives ab.
Tiefe Gläubigkeit hat die Seelen ergriffen. Ruth Teubner spielt die Mutter Maria. Sie habe sich „ganz sehr in Maria eingefühlt. Ich stelle mir vor, dass es mein Kind ist, das da leidet“, sagt sie. Manchmal kämen ihr dann die Tränen. Das scheint mehr als Spiel zu sein: Es ist verkörperter Glaube.
Hartwig Albusberger hält ein Säckchen mit Münzen. Ein DDR-Zwei-Mark-Stück darunter, 100 Lire, 50 Drachmen und eine Gedenkmünze mit dem Kopf von Johann Wolfgang von Goethe. „Wir mussten große Münzen aussuchen, damit man sie sieht.“ Albusberger spielt den Judas, der Jesus für 30 Silberlinge verraten hat. Selbst er gewinnt seiner Figur nur Positives ab: „Die Rolle ist gar nicht mistig. Ohne Judas kein Verrat. Jesus wäre nicht gestorben und hätte nicht auferstehen können. Judas war, wenn man so will, von Jesus auserwählt. Das ist meine Überzeugung.“
Thomas Seifert verkündigt als Kaiphas die biblische Geschichte.
Andere Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen, ist die Motivation der Darsteller, auch die von Thomas Seifert. Er trägt eine mit Edelsteinen besetzte Brustplatte und verkörpert den Kaiphas, also jenen Hohepriester, der maßgeblich an der Verurteilung Jesu von Nazareth beteiligt gewesen sein soll. „Ich glaube an die Geschichte und möchte sie verkündigen“, sagt Seifert.
Für Johannes Dehnel sind die Aufführungen sogar Gottesdienste, in denen es darum geht, die biblische Botschaft jenen Menschen nahezubringen, die sonst nie eine Kirche besuchen. Dehnel stellt den Raubmörder Barrabas dar. Der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte dem Volk die Alternative angeboten, entweder ihn oder Jesus freizulassen. „Welchen wollt Ihr, dass ich Euch losgebe“, ruft Pontius Pilatus auf der Bühne. Es erklingt ein vielfaches „Barrabas! Barrabas! Barrabas!“ Ebenso wuchtig erschallt es, als er fragt, was mit Jesus geschehen soll: „Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!“
Jana Urban freut sich über das Gemeinschaftserlebnis bei den Spielen.
„Barrabas sollte der erste Sünder sein, der durch das Opfer Jesu frei kam“, sagt Dehnel. Er, die anderen Männer und die drei Jesusdarsteller haben sich seit Monaten die Haare nicht schneiden lassen. „Das verändert die Person. Ich identifiziere mich besser mit Jesus“, sagt Mario Scheller. Er hat eine feste Vorstellung, welchen Charakter „sein“ Jesus hat. „Ich sehe ihn als Menschen. Als Mensch gewordenen Sohn Gottes. Er war herzlich, fröhlich. Das möchte ich rüberbringen. Es heißt ja nicht traurige, sondern frohe Botschaft.“
Scheller verkörpert den Gottessohn das erste Mal. Derzeit läuft er täglich mit dem Text in seiner Wohnung herum und lernt. Nicht auszudenken, bliebe er bei den letzten Sätzen stecken. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Hier könnte doch keine Souffleuse angemessen helfen. Die Jesusdarsteller – sie begeben sich in Gottes Hand. „Es ist vollbracht. Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Textheft. Der Text basiert auf einer Vorlage von Roman Brandtstaetter.
Ein halbes Jahr Bedenkzeit hatte sich Mario Scheller erbeten, als man ihn fragte, ob er den Jesus spielen möchte. Die Verantwortung ist groß, weil ein Jesus-Darsteller seine Zusage nicht nur für eine Saison gibt. Die Spielemacher gehen davon aus, dass Mario Scheller mindestens bis 2020 dabei sein wird. Zudem zögerte er, weil es eine Rolle ist, die ihm viel abverlangen wird, seelisch und körperlich. Matthias Groß, der schon in der fünften Spielzeit am Kreuz hängen wird, bestätigt das. „Man steht mit den Fersen auf einem kleinen Brett und hält sich mit den Fingern an Nägeln fest, 25 Minuten. Das braucht Kraft. Ich bin froh, wenn ich wieder runter kann“, sagt Groß. Um zu trainieren, hat er in seinem Schuppen ein Kreuz aufgestellt. Gerald Baumann, das zweite Mal dabei, bereitet sich mit Liegestützen vor.
Scheller, Baumann, Groß. Warum drei Darsteller? „Wir sind uns der Unvollkommenheit unserer Mittel bewusst“, sagt eine Sprecherin zu Beginn des Stückes. Zur Unvollkommenheit gehört, dass ein Darsteller krank werden kann. Würde das in der Hauptrolle passieren, wäre das Passionsspiel gefährdet – Glaube hin oder her. Schon immer spielt Zschorlau also mit einer Doppelbesetzung. Baumann und Groß sind nun über 50 Jahre alt und somit deutlich älter als Jesus in seinem Sterbejahr. Deswegen wurde, quasi als Junior-Jesus, Mario Scheller berufen. Und für 2020 sucht Zschorlau einen weiteren Jesus.
Die Spottformel der Kreuziger: Jesus von Nazareth, König der Juden.
Passionsspiele von Oberammergau bis Zschorlau
Das Wort Passion bedeutet so viel wie leiden, erleiden. Im christlichen Kontext bezeichnet es die letzten Abschnitte im Leben Jesu Christi mit den im Neuen Testament beschriebenen Geschehnissen, die zu seiner Kreuzigung führten. Am Ende stehen aber für Christen nicht Tod und Hoffnungslosigkeit, sondern die Freude über die Auferstehung Jesu. Die Botschaft, dass Jesus diesen Weg für die Menschen gegangen ist, steht im Mittelpunkt der Passionsspiele.
Allein in Deutschland gibt es zahlreiche Passionsspielorte. Dazu zählen unter anderem die Klöster Malgarten und Chorin, sowie Waal im Allgäu, Saarlouis, Perlesreut, Rieden, Salmünster, Tirschenreuth, Kemnath, Neumarkt in der Oberpfalz, Wuppertal, Weilheim in Oberbayern
Die Tauben warten auf ihren Einsatz in der Tempelszene.
Der bekannteste Spielort ist Oberammergau. Im Pestjahr 1633 hatten die Einwohner gelobt, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen. Erstmals wurde das Spiel 1634 als Einlösung des Versprechens aufgeführt. Von 1680 an galt ein zehnjährlicher Rhythmus, in der Regel im letzten Jahr eines Jahrzehnts. Im 20. Jahrhundert gab es zwei Extra-Spielzeiten: 1934 und 1984 zur 300. und 350. Wiederkehr der ersten Aufführung. Im Jahr 2010 führten die Einwohner das Spiel zum 41. Mal auf, es besuchten mehr als 515.000 Zuschauern die 109 Vorstellungen. Die Spiele wurden im Dezember 2014 in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen.
In Zschorlau finden die Spiele seit 2000 alle fünf Jahre statt. Inzwischen sind etwa 160 ehrenamtliche Darsteller, Musiker und Helfer rund um das Spiel im Einsatz. Diese kommen aus der evangelisch-lutherischen Kirche, der evangelisch-methodistischen Kirche und der Landeskirchlichen Gemeinschaft von Zschorlau, Albernau und Burkhardtsgrün. Alle Mitwirkenden sind Laiendarsteller. Die meisten Darsteller spielen „ihre“ Rolle, die sie sich für die erste Spielzeit 2000 weitgehend selbst ausgesucht hatten, bereits zum fünften Mal. Auch das Passionsspielorchester besteht, bis auf den musikalischen Leiter, aus Laien.
Es sind ausreichend Sandalen vorhanden, sogenannte Jesuslatschen.
Die Musik fürs Zschorlauer Spiel komponierten Gisbert Näther aus Potsdam und der langjährige Kantor Heiko Brosig. Weil sie live gespielt wird, werden die einzelnen Szenen damit aufgewertet.
Der Text des Spiels wurde vorrangig 1997/98 geschrieben. Er basiert auf den vier Evangelien des Neuen Testaments sowie auf dem Roman des polnischen Schriftstellers Roman Brandstaetter „Jesus von Nazareth“
An acht Tagen wird das Spiel aufgeführt, Premiere ist am Karfreitag um 13 Uhr. Am Karsamstag, Ostersonntag, Ostermontag wird jeweils um 13 Uhr gespielt, Mittwoch und Donnerstag um 18 Uhr und Samstag und Sonntag noch einmal jeweils um 13 Uhr. Tickets gibt es ab 15 Euro unter www.reservix.de oder im Pfarramt der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde, 08321 Zschorlau, August-Bebel-Str. 46, Telefon 03771/2543852.
Der dreifache Jesus
Freie Presse, erschienen am 01.04.2015
Von Eva Prase (Text) und Kristin Schmidt (Fotos)
Alle fünf Jahre findet in Zschorlau das größte evangelische Passionsspiel Deutschlands statt. Ein Ereignis, das den Darstellern viel abverlangt – vor allem der Hauptfigur.
Matthias Groß, Gerald Baumann und Mario Scheller (von links) besetzen bei den Passionsspielen in Zschorlau die Rolle des Jesus.
Zschorlau. Oh Gott, wie heißt die Mehrzahl? Die drei Männer fühlen sich bei der Frage auf dem falschen Jesuslatsch erwischt. „Jesi“, erwidert der eine, und der zweite schlägt vor, die zweite Silbe lang zu ziehen, so wie im Lateinischen. „Jesuus?“ Der dritte meint „Jesusse“ und weiß in dem Augenblick, in dem er es ausspricht, dass es unmöglich ist.
Jesus in der Mehrzahl – in der Schulturnhalle von Zschorlau ist es möglich. Matthias Gross, Gerald Baumann und Mario Scheller – die drei Jesusdarsteller – haben sich ihre Kostüme angezogen. Weiße Gewänder, einen Schal, einen Strick um den Bauch. Es finden die letzten Proben zu den diesjährigen Passionsspielen in der kleinen Gemeinde bei Aue statt. „Passion“ bedeutet „Leiden“, und dargestellt werden die letzten Abschnitte im Leben Jesu. In der vergangenen Woche wurde die Bühne gebaut, zehn mal fünfzehn Meter, drei Etagen. Ein Holzkreuz steht bereit und andere Requisiten. Ein Käfig mit Täubchen. Die Vögel spielen die Rolle der Opfertiere in der Tempelszene – ohne zu sterben. Ein Koffer mit schlichten Sandalen. „Braucht noch jemand Latschen?“, ruft Dieter Schürer.
Rechtsanwalt Dieter Schürer brachte die Spiele nach Zschorlau.
Der promovierte Rechtsanwalt trägt als Einziger kein Kostüm, sondern ein hellblaues Sportshirt. Er dirigiert die Laiendarsteller, lässt sie immer wieder die Eingangsszene trainieren. Dabei laufen alle in Alltagskleidung auf die Bühne – als Volk von Jerusalem. „Das muss sitzen. Hier bekommen die Zuschauer den ersten Eindruck. Denkt dran: Konzentriert vorgehen! Nicht am Vorhang zupfen!“
Zschorlau verdankt Schürer, den sie im Ort oft nur „den Doktor“ nennen, die Spiele. Er hatte vor Jahren Passionsspiele in Erl, Thiersee und Oberammergau erlebt und gedacht, so etwas müsse es auch daheim geben. 2015 spielt Zschorlau nun schon zum fünften Mal, und bisher erlebten mehr als 21.000 Zuschauer das Stück. Ein großer Erfolg, der wohl nicht in jedem Ort möglich gewesen wäre. Doch Zschorlau, in den Bergen gelegen, ist von besonderer Gläubigkeit: Rund 3500 Einwohner zählt der Ort, 60 Prozent sind Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche, und weitere 400 gehören der evangelisch-methodistischen Kirche an. Voll besetzt ist die Kirche an den Sonntagen, dazu Hauskreise, Kirchenchor, Bibelnachmittage. Eine Alltagsfrömmigkeit herrscht, bei der jene leicht zu Außenseitern werden können, die nicht mitspielen.
Hartwig Albusberger gewinnt seiner Rolle als Judas nur Positives ab.
Tiefe Gläubigkeit hat die Seelen ergriffen. Ruth Teubner spielt die Mutter Maria. Sie habe sich „ganz sehr in Maria eingefühlt. Ich stelle mir vor, dass es mein Kind ist, das da leidet“, sagt sie. Manchmal kämen ihr dann die Tränen. Das scheint mehr als Spiel zu sein: Es ist verkörperter Glaube.
Hartwig Albusberger hält ein Säckchen mit Münzen. Ein DDR-Zwei-Mark-Stück darunter, 100 Lire, 50 Drachmen und eine Gedenkmünze mit dem Kopf von Johann Wolfgang von Goethe. „Wir mussten große Münzen aussuchen, damit man sie sieht.“ Albusberger spielt den Judas, der Jesus für 30 Silberlinge verraten hat. Selbst er gewinnt seiner Figur nur Positives ab: „Die Rolle ist gar nicht mistig. Ohne Judas kein Verrat. Jesus wäre nicht gestorben und hätte nicht auferstehen können. Judas war, wenn man so will, von Jesus auserwählt. Das ist meine Überzeugung.“
Thomas Seifert verkündigt als Kaiphas die biblische Geschichte.
Andere Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen, ist die Motivation der Darsteller, auch die von Thomas Seifert. Er trägt eine mit Edelsteinen besetzte Brustplatte und verkörpert den Kaiphas, also jenen Hohepriester, der maßgeblich an der Verurteilung Jesu von Nazareth beteiligt gewesen sein soll. „Ich glaube an die Geschichte und möchte sie verkündigen“, sagt Seifert.
Für Johannes Dehnel sind die Aufführungen sogar Gottesdienste, in denen es darum geht, die biblische Botschaft jenen Menschen nahezubringen, die sonst nie eine Kirche besuchen. Dehnel stellt den Raubmörder Barrabas dar. Der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte dem Volk die Alternative angeboten, entweder ihn oder Jesus freizulassen. „Welchen wollt Ihr, dass ich Euch losgebe“, ruft Pontius Pilatus auf der Bühne. Es erklingt ein vielfaches „Barrabas! Barrabas! Barrabas!“ Ebenso wuchtig erschallt es, als er fragt, was mit Jesus geschehen soll: „Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!“
Jana Urban freut sich über das Gemeinschaftserlebnis bei den Spielen.
„Barrabas sollte der erste Sünder sein, der durch das Opfer Jesu frei kam“, sagt Dehnel. Er, die anderen Männer und die drei Jesusdarsteller haben sich seit Monaten die Haare nicht schneiden lassen. „Das verändert die Person. Ich identifiziere mich besser mit Jesus“, sagt Mario Scheller. Er hat eine feste Vorstellung, welchen Charakter „sein“ Jesus hat. „Ich sehe ihn als Menschen. Als Mensch gewordenen Sohn Gottes. Er war herzlich, fröhlich. Das möchte ich rüberbringen. Es heißt ja nicht traurige, sondern frohe Botschaft.“
Scheller verkörpert den Gottessohn das erste Mal. Derzeit läuft er täglich mit dem Text in seiner Wohnung herum und lernt. Nicht auszudenken, bliebe er bei den letzten Sätzen stecken. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Hier könnte doch keine Souffleuse angemessen helfen. Die Jesusdarsteller – sie begeben sich in Gottes Hand. „Es ist vollbracht. Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Textheft. Der Text basiert auf einer Vorlage von Roman Brandtstaetter.
Ein halbes Jahr Bedenkzeit hatte sich Mario Scheller erbeten, als man ihn fragte, ob er den Jesus spielen möchte. Die Verantwortung ist groß, weil ein Jesus-Darsteller seine Zusage nicht nur für eine Saison gibt. Die Spielemacher gehen davon aus, dass Mario Scheller mindestens bis 2020 dabei sein wird. Zudem zögerte er, weil es eine Rolle ist, die ihm viel abverlangen wird, seelisch und körperlich. Matthias Groß, der schon in der fünften Spielzeit am Kreuz hängen wird, bestätigt das. „Man steht mit den Fersen auf einem kleinen Brett und hält sich mit den Fingern an Nägeln fest, 25 Minuten. Das braucht Kraft. Ich bin froh, wenn ich wieder runter kann“, sagt Groß. Um zu trainieren, hat er in seinem Schuppen ein Kreuz aufgestellt. Gerald Baumann, das zweite Mal dabei, bereitet sich mit Liegestützen vor.
Scheller, Baumann, Groß. Warum drei Darsteller? „Wir sind uns der Unvollkommenheit unserer Mittel bewusst“, sagt eine Sprecherin zu Beginn des Stückes. Zur Unvollkommenheit gehört, dass ein Darsteller krank werden kann. Würde das in der Hauptrolle passieren, wäre das Passionsspiel gefährdet – Glaube hin oder her. Schon immer spielt Zschorlau also mit einer Doppelbesetzung. Baumann und Groß sind nun über 50 Jahre alt und somit deutlich älter als Jesus in seinem Sterbejahr. Deswegen wurde, quasi als Junior-Jesus, Mario Scheller berufen. Und für 2020 sucht Zschorlau einen weiteren Jesus.
Die Spottformel der Kreuziger: Jesus von Nazareth, König der Juden.
Passionsspiele von Oberammergau bis Zschorlau
Das Wort Passion bedeutet so viel wie leiden, erleiden. Im christlichen Kontext bezeichnet es die letzten Abschnitte im Leben Jesu Christi mit den im Neuen Testament beschriebenen Geschehnissen, die zu seiner Kreuzigung führten. Am Ende stehen aber für Christen nicht Tod und Hoffnungslosigkeit, sondern die Freude über die Auferstehung Jesu. Die Botschaft, dass Jesus diesen Weg für die Menschen gegangen ist, steht im Mittelpunkt der Passionsspiele.
Allein in Deutschland gibt es zahlreiche Passionsspielorte. Dazu zählen unter anderem die Klöster Malgarten und Chorin, sowie Waal im Allgäu, Saarlouis, Perlesreut, Rieden, Salmünster, Tirschenreuth, Kemnath, Neumarkt in der Oberpfalz, Wuppertal, Weilheim in Oberbayern
Die Tauben warten auf ihren Einsatz in der Tempelszene.
Der bekannteste Spielort ist Oberammergau. Im Pestjahr 1633 hatten die Einwohner gelobt, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen. Erstmals wurde das Spiel 1634 als Einlösung des Versprechens aufgeführt. Von 1680 an galt ein zehnjährlicher Rhythmus, in der Regel im letzten Jahr eines Jahrzehnts. Im 20. Jahrhundert gab es zwei Extra-Spielzeiten: 1934 und 1984 zur 300. und 350. Wiederkehr der ersten Aufführung. Im Jahr 2010 führten die Einwohner das Spiel zum 41. Mal auf, es besuchten mehr als 515.000 Zuschauern die 109 Vorstellungen. Die Spiele wurden im Dezember 2014 in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen.
In Zschorlau finden die Spiele seit 2000 alle fünf Jahre statt. Inzwischen sind etwa 160 ehrenamtliche Darsteller, Musiker und Helfer rund um das Spiel im Einsatz. Diese kommen aus der evangelisch-lutherischen Kirche, der evangelisch-methodistischen Kirche und der Landeskirchlichen Gemeinschaft von Zschorlau, Albernau und Burkhardtsgrün. Alle Mitwirkenden sind Laiendarsteller. Die meisten Darsteller spielen „ihre“ Rolle, die sie sich für die erste Spielzeit 2000 weitgehend selbst ausgesucht hatten, bereits zum fünften Mal. Auch das Passionsspielorchester besteht, bis auf den musikalischen Leiter, aus Laien.
Es sind ausreichend Sandalen vorhanden, sogenannte Jesuslatschen.
Die Musik fürs Zschorlauer Spiel komponierten Gisbert Näther aus Potsdam und der langjährige Kantor Heiko Brosig. Weil sie live gespielt wird, werden die einzelnen Szenen damit aufgewertet.
Der Text des Spiels wurde vorrangig 1997/98 geschrieben. Er basiert auf den vier Evangelien des Neuen Testaments sowie auf dem Roman des polnischen Schriftstellers Roman Brandstaetter „Jesus von Nazareth“
An acht Tagen wird das Spiel aufgeführt, Premiere ist am Karfreitag um 13 Uhr. Am Karsamstag, Ostersonntag, Ostermontag wird jeweils um 13 Uhr gespielt, Mittwoch und Donnerstag um 18 Uhr und Samstag und Sonntag noch einmal jeweils um 13 Uhr. Tickets gibt es ab 15 Euro unter www.reservix.de oder im Pfarramt der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde, 08321 Zschorlau, August-Bebel-Str. 46, Telefon 03771/2543852.
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